Haydns 22 Ouvertüren gleichen einer tönenden Biographie, die seinen schöpferischen Werdegang ebenso chronologisch wie stenographisch dargestellt. Von
Acide (1762/63) bis zu den
Jahreszeiten (1801) spannt sich der Bogen einer unentwegten, jahrzehntelangen kompositorischen Entwicklung Haydns, die von den stilistischen Anfängen während des Spätbarocks (frühe Orgelkonzerte) zur klassischen Revolution mit Sturm und Drang (
Abschidssymphonie) über die Hochklassik (
Londoner Symphonien) bis zum Erreichen einer wiederum völlig neuen, einer romantischen Tonsprache reicht: Haydns Schaffen dokumentiert unablässige Erfindungskraft und eine schier unendliche Entwicklungsfähigkeit bis ins hohe Alter.
Es gibt nur wenige Beispiele dafür, dass sich die musikalische Sprache und der Stil eines Komponisten bis zum letzten Takt so weiterentwickelt, dass die frühen und die letzten Werke nicht mehr so klingen, als ob sie vom selben Autor wären, und dass ein Komponist sich am Ende ebenso an der Spitze der Modern findet wie am Anfang. Ähnliches finden wir u.a. bei Beethoven und Strawinsky, bei Verdi und Mahler, alles Komponisten, die über Generationen hinaus auch stilbildende blieben.
Haydn schrieb im Laufe seiner rund 50-jährigen Komponistentätigkeit enorm viele Vokalwerke: über 20 Bühnenwerke, 12 Messen, zahlreiche kleinere liturgische Werke, Oratorien, Kantaten, Chorwerke, Lieder, und
Dutzende Einlagearien (für Opern anderer Komponisten). Haydns Opernschaffen stellt insgesamt ein
Oeuvre dar, das allein schon dem Umfang nach den 18 Opern Mozarts durchaus vergleichbar ist, das aber bis heute großteils und zu Unrecht unterschätzt ist.
Betrachtet man die Stoffe, die Haydn vertonte, so sind folgende Themen zu erkennen: erstaunlich wenige Geschichten aus der Antike (
Acide, Philemon, Orlando Paladino, Armida, Orfeo), von denen insbesondre
Orlando eine echte Komödie („drama eroicomico“) ist, in der die Antike sehr süffisant behandelt wird.
Auch Oratorien werden von Ouvertüren eingeleitet:
Il Ritorno di Tobia nimmt einen wichtigen Platz in Hazdns Schaffen ein. Ein Werk, das ganz aus dem Rahmen fällt, ist Haydns Karfreitagsmusik
Die Sieben Letzten Worte Unseres Erlösers Am Kreuze, ein Auftragswerk für das Oratorio de la Santa Cueva in Cadiz, das Anfang 1786 vollendet wurde.
Die Vorstellung de Chaos, die Ouvertüre zur
Schöpfung, setzt diese Entwicklung fort und wurde von den Zeitgenossen auch prompt als die revolutionärste und modernste Musik ihrer Zeit empfunden.
Alles ist an diesem
Chaos ungewöhnlich: die harmonische Struktur - die eigentliche Tonart, c-moll - wird erst im letzten Akkord eindeutig definiert, davor kreisen die Harmonien chromatisch darum herum.
Mit der Einleitung zum
Winter (
Die Jahreszeiten) in ihrer Originalform fühlt man sich bereits in die Spätromantik versetzt, Haydns Tonsprache klingt hier wie die Vision einer Zukunftsmusik, wegweisend für die weitere Entwicklung des 19. Jahrhunderts. Dies Aufnahme ist die erste gewesen, in der die orchestralen Teile der Oratorien in der Originalgestalt zu hören sind.
Manfred Huss
aus dem CD-Booklet zitiert